„Wie kann man da leben?“ – das Leid in DDR-Kinderheimen

Im Groß-Gerauer Echo erschien ein Artikel über unsere Fahrt zur Gedenkstätte Point Alpha. Ein kurzer Einblick…

Zeitzeugen berichten an Suttner-Schule über das Leid in DDR-Kinderheimen
„Wie kann man da leben?“

 

Eine Arbeit über Kinderheime in der ehemaligen DDR präsentierten Lukas Klink, Lukas Haldek, Anna-Victoria Lehnert, Marc Herrmann, Hadiya Korash, Celine Georg, Dania-Jamil Ahmad und Shari Leuthäusser (von links). Die Jugendlichen der Bertha-von-Suttner-Schule beteiligten sich Mitte November an einem Projekt der Point-Alpha-Stiftung in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. Foto: Vollformat/Sebastian Schwappacher

 

 

 

 

BERTHA-VON-SUTTNER-SCHULE – MÖRFELDEN-WALLDORF.

Manchmal fällt es Shari Leuthäuser schwer, die richtigen Worte zu finden. Ebenso wie bei Anna-Victoria Lehnert, Celine Georg und Lukas Klink haben sich die Erzählungen ehemaliger Insassen von DDR-Kinderheimen tief in ihre Erinnerungen eingegraben. Im Geschichtsunterricht haben sie sich mit diesem dunklen Kapitel der DDR-Geschichte befasst, sind für zwei Tage in die Gedenkstätte Point Alpha an der hessisch-thüringischen Landesgrenze gefahren. An jenen Ort, an dem sich Alliierte und DDR-Grenztruppen viele Jahre gegenüberstanden – getrennt von einem Todesstreifen, der nahezu unüberwindlich war.
Die zehn Schüler der elften und zwölften Jahrgangsstufe der Bertha-von-Suttner-Schule haben die deutsche Teilung nicht mehr erlebt. Sie sind in einem vereinten Deutschland aufgewachsen. Gerade deshalb können sie sich nicht vorstellen, was mit Kindern in der früheren DDR passiert ist.
Das haben ihnen Zeitzeugen erzählt. Manchmal seien Tränen geflossen. Bei den Schilderungen sei es in dem großen Vortragsraum still wie in einer Kirche gewesen. Die Zeitzeugen waren im berüchtigten „Jugendwerkhof Torgau“ untergebracht, wo ihnen, wie in vielen ähnlichen Einrichtungen in der ehemaligen DDR, erst mal die Haare geschoren wurden. Bei Ungehorsam kamen sie in den Dunkelarrest, beim Duschen seien sie nie alleine gewesen, teilweise im Intimbereich verbrüht worden, haben sie erzählt. Sie seien immer wieder misshandelt worden – sexuell und körperlich. Gebrochen für ein ganzes Leben.
Fast kein Mitarbeiter bestraft
„Menschenrechte und Würde haben da keine Rolle gespielt“, sind sich die Schüler einig. Unvorstellbar für die Jugendlichen, dass in der DDR Kinder einfach aus ihren Familien herausgerissen und in Heime gesperrt und übel behandelt wurden. „Noch nie hat uns etwas so mitgenommen“, sagt Anna-Victoria Lehnert.
Die Jugendlichen sind sich einig, dass diese Vorkommnisse nicht vergessen werden dürfen. Sie sind empört, dass frühere Zellen, in denen die Kinder eingesperrt waren, zu Wohnungen mit schicken Balkons umgewandelt wurden. „Wie kann man da leben?“, fragt Celine Georg.
Es empört sie auch, dass von den Heimmitarbeitern nach der Wende fast niemand bestraft wurde. Meist seien sie mit einer geringen Geldstrafe davongekommen. Menschen, die früher Kinder misshandelt hätten, würden heute als Professoren, Lehrer für Behinderte oder Altenpfleger arbeiten.
Viele dieser Kinder hätten jahrelang geschwiegen – auch gegenüber ihren Familien. Manche könnten bis heute nicht über das reden, was ihnen damals passierte. Andere würden sich weigern, ihre Eltern in ein Alten- oder Pflegeheim zu geben, weil sie mit solchen Einrichtungen negative Erfahrungen verbinden würden.
Manche Opfer haben ihre Erfahrungen in Büchern verarbeitet, andere gehen in Schulen und berichten von dieser Zeit. Eine Zeitzeugin habe erklärt, Opfer aus DDR-Kinderheimen würden sich auf der Straße alleine am gebrochenen Blick erkennen, ohne sich jemals zuvor gesehen zu haben.
Die Schüler der Bertha-von-Suttner-Schule haben ihre Eindrücke aufgeschrieben und die Gespräche mit den Zeitzeugen in Videofilmen festgehalten. Sie wollen alles auf der Internetseite der Schule und in der Schülerzeitung veröffentlichen. Ihr Video soll sogar im Fernsehen gezeigt werden. Zudem soll eine Zeitzeugin demnächst in die Schule nach Mörfelden-Walldorf kommen.
Die beiden Lehrerinnen Ute Diefenbach und Annette Labusek, die die Fahrt zum Point Alpha begleiteten, waren beeindruckt, wie ernst ihre Sprösslinge das Thema genommen haben. „Wir haben eine ganz andere Perspektive auf die Schüler bekommen.“

Text: Hans Dieter Erlenbach

 

INFO:
Bis zu 500000
. Bis zu einer halben Million Kinder sollen in der DDR in Kinderheimen eingesperrt worden sein.
. Waren sie volljährig, haben sie die Heime oft als gebrochene Menschen verlassen und nie mehr ins Leben zurückgefunden.
. Es waren Kinder von als politisch unzuverlässig eingestuften Eltern, aber auch aus zerrütteten Familienverhältnissen. (ha)